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Dr. Johanna Mattissen ist promovierte Sprachwissenschaftlerin. Sie ist Lehrbeauftragte des Instituts für Deutsche Sprache sowie der Europäischen Rechtslinguistik an der Universität zu Köln. Das Gespräch führten wir persönlich im Institut für Linguistik in Köln.

Dr. Johanna Mattissen –
Sprachwissenschaften M – JM

Gilt für die Sprachwissenschaft per se, dass es sich bei Sprache nur um gesprochene Sprache handelt?

Die Sprachwissenschaft arbeitet mit gesprochener Sprache als Grundmaterial. Schrift ist immer das sekundäre Medium von Sprache. Die Schrift versucht im Grunde, die gesprochene Sprache abzubilden, nur haben Sprache und Schrift ganz unterschiedliche Kanäle. D.h., wenn ich so mit Ihnen spreche, ist das Wort flüchtig. Sie zeichnen das jetzt zwar auf, aber normalerweise wäre das Gesprochene direkt wieder weg. Wenn ich etwas aufschreibe, haben Sie dagegen etwas Permanentes. Wenn ich direkt mit Ihnen kommuniziere, ist das Gegenüber anwesend. Vor der Erfindung des Telefons musste man immer direkt miteinander sprechen. Wenn ich etwas aufschreibe, kann ein Leser es auch Jahrhunderte später lesen. Dadurch ergibt sich, dass wenn wir miteinander sprechen und etwas unklar ist, Sie direkt Rückfragen stellen können. Leser können nicht rückfragen, deswegen muss man, wenn man schreibt, anders strukturieren, expliziter sein, weil man antizipieren muss, dass man vielleicht missverstanden wird. Man merkt das, wenn man vergleicht, wie man gesprochene Sprache strukturiert und wie man geschriebene Sprache strukturiert. Nur lernt man in der Schule immer, wie man schön schreibt und argumentiert. Man beschäftigt sich nie mit gesprochener Sprache. Da entsteht der Eindruck, dass wäre nebensächlich oder unstrukturierter. Aber das ist absolut nicht der Fall. Das ist sehr spannend, man muss sich ein wenig wegtherapieren, dass die Schrift das Wichtigste ist. Wir arbeiten dann mit dem authentischen Material, das was man mündlich äußert oder, bei Gebärdensprache, gebärdet. Wir untersuchen seine Struktur auf verschiedenen Ebenen: auf der phonologischen und phonetischen Ebene die Lautgestalt dessen, was man sagt, auf der morphologischen Ebene, wie einzelne bedeutungstragende Bestandteile zusammengesetzt sind; auf der syntaktischen Ebene, wie Sätze zusammengebaut sind und auf der Diskursebene, wie aus Sätzen Text konstruiert wird (wir benutzen „Text“ auch für gesprochene Texte). Außerdem schauen wir von der semantischen Seite, wie Bedeutung strukturiert ist. Wir versuchen uns auch dem zu nähern, wie Bedeutung im Hirn abgespeichert ist, das geht schon ein bisschen in die Neurowissenschaft. Schließlich gibt es noch den Aspekt der Pragmatik, nämlich wie verwendet der Sprecher/die Sprecherin Sprache, zu welchem Zweck, wie kommt das beim Hörer an.

Ist denn auch Betonung und Aussprache ein Bestandteil der Arbeit? Beispielsweise wie Ironie schriftlich transportiert werden kann oder wie sich Ironie in manchen Sprachen ausdrückt?

Auf jeden Fall! Betonung und Aussprache gehören zur Phonologie, Ironie zur Pragmatik. Wir haben auch eine Kollegin hier im Hause, die dazu einige Lehrveranstaltungen gehalten hat.

Die Sprachwissenschaft forscht, sie werden nicht erforscht, oder?

Normalerweise ja. Das machen wir auch, das heißt dann Feldforschung. Man fährt dahin, wo die Menschen leben, die die Sprache sprechen und schaut, ob man in der Sprachgemeinschaft Leute finden kann, die bereit sind, mit einem zu arbeiten und ihr Wissen über die Sprache zu teilen. Sie erzählen etwas, das wir dann analysieren. Mit Hilfe der Muttersprachler versucht man, dabei immer weiter ins Detail zu kommen, bis man den Aufbau der Sprache nachvollziehen kann. Das ist der nobelste Ansatz, aber unter Umständen auch der zeitintensivste und schwierigste. Wenn man das Material im Feld gesammelt hat, kommt man wieder zurück und wertet es aus, dadurch ergeben sich neue Fragen, die man wieder im Feld zu klären versucht, und wieder so weiter.

Wie läuft das am Anfang ab, wenn man sich mit einer Sprache beschäftigt, die extrem komplex ist. Lernt man diese im Voraus, um dann dort hinzufahren und sie zu erforschen oder kommuniziert man auch über eine andere Sprache?

Auf jeden Fall. Im Basisfall ist es so, dass wir über die Sprache, die wir erforschen, noch kein Material haben. Manchmal gibt es aber schon Material. Sie bereiten sich auf den Aufenthalt vor, indem sie alles eingehend studieren, was schon vorhanden ist. Sie brauchen immer eine Mittlersprache, in der sie mit den Muttersprachlern über ihre Sprache kommunizieren können. Es ist also zweckmäßig, die zu untersuchende Sprache zu lernen.

Sie sagten eben, Gebärdensprache sei auch Sprache im klassischen Sinne. Für mich war Sprache immer das gesprochene Wort. Welche Formen gehören denn alles dazu?

Wir unterscheiden grundsätzlich Lautsprache und Gebärdensprache. Der Unterschied besteht nicht in der Komplexität des Systems, da sind beide auf Augenhöhe. Genau wie jede andere Sprache auch. Der Unterschied ist, dass Lautsprachen einen anderen Kanal bedienen, dass sie über Schallwellen übertragen und akustisch rezipiert wird. Gebärdensprache hingegen wird optisch rezipiert und arbeitet mit Gebärden, Mimik, Körperhaltung. Vor allem mit den Händen konstruiert die Gebärdensprache die Zeichen, die sie ansonsten lautlich produzieren würde, und kombiniert diese miteinander. Die Gebärdensprachen haben auch sehr komplexe Strukturen, sie bilden nicht eine Lautsprache eines Landes ab. Z.B. gibt es die Deutsche Gebärdensprache (DGS), es gibt auch hier in Köln ein Zentrum, in dem man sich sehr eingehend damit beschäftigen und sie auch erlernen kann. Deutsche Gebärdensprache ist ganz anders strukturiert als die deutsche Lautsprache, beide sind nicht miteinander verwandt. Gebärdensprachen untereinander haben, jeweils auch wieder ihr eigenes System, so dass Sie, wenn Sie die Deutsche Gebärdensprache können und nach Amerika reisen, sich dort nicht verständigen können, wenn Sie nicht auch die American Sign Language (ASL) gelernt haben.